Von den stillen Lesesonntagen

Mein Leserückblick auf 2016

nachtbibliothekar
krimiblog.com
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6 min readDec 30, 2016

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Ein langjähriger Freund besuchte mich an einem dieser Tage zwischen den Jahren. Was folgte war, neben dem Austausch über die wichtigsten Neuigkeiten der letzten Monate, ein nostalgischer Rückblick auf all die gemeinsamen Erlebnisse. Beide sind wir in diesem Jahr 50 geworden, da gehört es wohl dazu, dass Männer im fortschreitenden Alter eher auf die Fülle der Vergangenheit zurückblicken als auf die ungewisse Zukunft, deren Dauer immer überschaubarer wird.

„Du hast doch früher immer Deine Nase in ein Buch gesteckt, Dich bekam man ja nie vom Sofa herunter.“ Freunde dürfen so etwa sagen — und seine Erinnerung täuscht ihn nicht. Im Gegensatz dazu dürfte das Jahr 2016 wohl das Jahr sein, in dem ich so wenig Bücher wie noch nie gelesen habe. Ein Blick in meine, nicht wirklich akkurat geführte, Goodreads-Liste bestätigt diesen Eindruck. Die Gründe dafür liegen in all den Erlebnissen, Begegnungen und Erkenntnissen, die 2016 mein Leben bestimmten. Manchmal ist das Leben eben doch spannender als die Fiktion, manchmal überschneiden sich Leben und Fiktion, und gelegentlich traf ich auf Menschen, die ihr Leben eher in unbegreiflichen Gedankengebäuden verbringen und zugleich sehr fassbar und realistisch erschienen. Das ist allerdings eine andere Geschichte.

2016 war also das „Kaum-Lese-Jahr“ für mich. Unter den Büchern, für die ich dann doch auf Zugreisen, in Wartesälen und an stillen Sonntagen Zeit fand, gibt es einige, die zumindest eine Erwähnung verdienen, bevor sie auf dem Stapel der „Wieder-zu-lesen-Bücher“ verschwinden, der vermutlich nie angefasst wird. Das mit der verbleibenden Lebens- und Lesedauer hatte ich ja schon erwähnt.

Das anregendste Literaturereignis war 2016 für mich kein Buch, sondern das dreitägige Literaturseminar „BritCrime“ des British Council Ende Januar in Berlin. Innerhalb von drei Tagen die hochkarätigen Autorinnen und Autoren Kate Summerscale, Jake Arnott, Philip Kerr, Val McDermid, Sophie Hannah und Bethan Roberts hautnah an einem Ort zu erleben, war inspirierend und bereichernd. Insbesondere Kate Summerscale, an deren Seminar ich teilnehmen durfte, faszinierte mich durch den Einblick, den sie in ihre Arbeitsweise gewährte. Wie sie für ihre Bücher, die in der Regel historische Kriminalfälle aufgreifen, recherchiert und diese Recherche in spannende Texte aufbereitet, ist bemerkens- und lesenswert. Ihre Bücher sind eine Mischung aus Reportage, True Crime und historischem Abriss. Entsprechend gefreut hat es mich, dass im Frühjahr ihr aktuelles Buch „The Wicked Boy“ erschien, zu dem ich hier etwas aufgeschrieben habe.

Im noch frischen Jahr 2016 stand dann eine Lektüre auf meiner Liste, die ich leider noch nicht zu Ende geführt habe. Die von Sarah Weinman herausgegeben Romananthologie „Women Crime Writers : Eight Suspense Novels of the 1940s & 50s“, die bereits im Herbst 2015 in der Library of America veröffentlicht wurde, ist gelungene Wiederentdeckung, Sozialgeschichte und Literaturforschung zugleich. Fast vergessene Autorinnen wie Vera Caspary, Dorothy B. Hughes oder Dolores Hitchens aus dem Schatten ihrer männlichen Kollegen herauszuholen, ist ein verdienstvolles und notwendiges Unterfangen. Immerhin: Drei der Romane konnte ich lesen und alle drei sind jede Wieder- oder Neuentdeckung wert. Vera Casparys „Laura“ ist eine klug arrangierte Studie über die Verhältnisse der Geschlechter in den 1940er Jahren, in denen selbstbewusste Frauen mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sofern sie Heim, Herd und Familie eine Absage erteilten. Helen EustisThe Horizontal Man“ ist in meinen Augen die US-amerikanische Antwort auf Dorothy L. Sayers „Gaudy Night“ — ein College-Roman, in dem die Geschlechterrollen weitestgehend auf den Kopf gestellt werden. Eustis wirft einen kritischen Blick auf das Phänomen der „Hysterie“, die gerne Frauen unterstellt wurde — und wie in dem Roman oft einfach nur die männliche Hilflosigkeit gegenüber emanzipierten Frauen zeigt. Dorothy B. Hughes „In A Lonely Place“ ist ein düsteres Meisterwerk über das Denken und Verhalten eines Serienmörders, fünf Jahre vor Jim Thompsons „The Killer Inside Me“ veröffentlicht, und eine bestechende Analyse der Misogynie der US-amerikanischen Gesellschaft, die selbst 2016 ihre hässliche Fratze ungeniert zeigte. Immerhin warten fünf weitere Romane aus der Anthologie noch auf mich, was eine erfreuliche Aussicht für 2017 ist. Und alle Romane der Anthologie sollen noch ausführlicher gewürdigt werden.

Variationen bekannter Motive

Coming-Of-Age-Romane, im Deutschen gerne mit dem verstaubt klingenden Begriff „Bildungsroman“ kategorisiert, stehen regelmäßig auf meiner Leseliste. So auch 2016 mit dem Debütroman „Where The Light Tends To Go“ des US-amerikansichen Autors David Joy. Wer sich auf dessen Instagram-Profil umschaut, wird Fotos von gefangenen Fischen, Tieren auf einer Farm, bärtigen Naturburschen und unrealistisch wirkende Landschaftsaufnahmen aus dem amerikanischen Hinterland entdecken. Jene Landschaft darf man sich wohl auch als Setting für Joys Roman vorstellen, der allerdings nichts mit Landromantik zu tun hat. Joys jugendlicher Antiheld Jacob McNeely wächst im rauen North Carolina in den Bergen der Appalachen auf. Sein Vater, ein gewalttätiger Drogenhändler, der erfolgreich Crystal Meth vertreibt, Polizei und Gesetz korrumpiert und Jacobs Mutter in die Drogenabhängigkeit getrieben hat, plant für seinen Sohn eine ähnliche kriminelle Karriere, der sich Jacob jedoch widersetzt. Hinzu kommt der religiöse Wahn, dem Jacobs Vater als ehemaliger Laienprediger anheim gefallen ist. Religiöser Fanatismus im US-amerikanischen Hinterland und seine Folgen — Joy seziert dies auf brutale Weise.

Eine eher routinierte Lektüre bot mir der siebte Fall für den irischen Gerichtsmediziner Quirke. In „Even The Dead“ greift Benjamin Black (alias John Banville) die bekannten Motive der Reihe auf: Der Muff der irischen Gesellschaft in den 1950er Jahren, die menschenverachtenden Machenschaften der katholischen Kirche und ihre pervertierte Frauenverachtung. Ein menschliches Drama, eine gelungene Sozialstudie, bei der allerdings die Figuren blass und schemenhaft bleiben.

Ebenfalls vertraute Muster lieferte mir Christopher Bollens moderne Variante des Landhauskrimis „Orient“, angesiedelt auf Long Island. In deren Nachbarschaft befindet sich Plum Island (Fans von Hannibal Lecter werden sich erinnern), auf dem das Hochsicherheitsforschungszentrum für Tierseuchen und -krankheiten untergebracht ist. Undefinierbare Tierkadaver werden an den Strand gespült, Bewohner der kleinen Ortschaft Orient werden ermordet und ein junger, fremder Mann, der seiner New Yorker Drogenvergangenheit entfliehen will, sorgt für Unruhe. Eine illustre Variation bekannter Krimimotive, durchaus spannend mit einem überraschenden Ende.

Die zweitschönste Sache der Welt

Sollte ich mein Lesejahr zusammenfassen, dann kann ich sagen, es war eine viel zu kurze, dafür aber eine sehr intensive und gute Lektürezeit. Und was kommt 2017? Ich hoffe mehr! Wohin mich meine Bücherstreifzüge führen, weiß ich noch nicht. Momentan bereite ich für Blogkollegin Birgit von “Sätze und Schätze” einen Beitrag für ihre schöne Reihe #MeinKlassiker vor. Das ich mit dabei sein darf, freut und ehrt mich sehr.

Ansonsten gilt für das kommende Jahre das Glück und der Fluch des Lesenden: Die Variationen der Bücher sind für ein Menschen endlos. Vielleicht könnte ich einen Blick auf die Klassiker werfen? Oder ich beginne endlich meine Regelreise, die ich eigentlich schon vor zwei Jahren antreten wollte. Sollen es mehr Krimis sein? Oder wie wäre es mit Bizarro Fiction — hierzulande kaum bekannt, in den USA schon ein alter Hut. Das Abwegige und Schräge mochte und mag ich. Auf jeden Fall soll meine Nase wieder des Öfteren in Bücher stecken und ich möchte wieder mehr darüber schreiben. Literatur ist schließlich die zweitschönste Sache der Welt. Nur das wirkliche Leben kann sie überbieten — wobei man sich sowohl in der Literatur wie auch im Leben auf Lügen gefasst machen muss.

Auf eine lesereiches 2017!

Folgende Ausgaben habe ich gelesen (Bibliographische Angaben)

Kate Summerscale: The Wicked Boy : The Mystery Of A Victorian Child Murderer. — London : Bloomsbury, 2016
ISBN: 978–1–4088–5115–9

Women Crime Writers : Eight Suspense Novels of the 1940s & 1950. — Sarah Weinman, Editor. — New York : The Library of America, 2015
ISBN: 978–1–59853–453–3

David Joy: Where All The Light Tends To Go. — New York : G.P. Putnam’s Son, 2015
ISBN 978–0–425–27979–3

Benjamin Black: Even The Dead : A Quirke Mystery. — London : Penguin Books, 2016
ISBN 978–0–241–19735–6

Christopher Bollen: Orient. — London : Scribner, 2015
ISBN: 978–1–4711–3616–0

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