Mittwochs-Depesche: Nostalgie-Ausgabe

nachtbibliothekar
krimiblog.com

--

Hin, her, ja, nein, Kopfschütteln, Klatschen. Spontane Reaktionen auf diesen Text von Stefan Mesch. Bei SteglitzMind beantwortet er die Frage: Sind bibliophile Blogger Nostalgiker? Hin, her, ja, nein, Kopfschütteln, Klatschen.

Zunächst: Danke für diesen Text und ich hoffe, Gesine von Prittwitz nimmt es mir nicht übel, dass ich nicht direkt bei ihr im Blog antworte, sondern das tue, was Blogger — egal ob nun bibliophil oder nicht, ob Nostalgiker oder nicht — viel öfters tun sollten: Diskussionen und Gedanken weitertragen in ihre eigenen Blogs. Denn da warten womöglich noch ganz andere Leserinnen und Leser, die darüber etwas lesen möchten.

»Bücher waren und sind meine Verbündeten gegen die Dummheiten der Welt.«

Möchtet Ihr? Falls nicht, klicke jetzt bitte weiter, wenn ja, erlaubt mir ein paar Erwiderungen zu dem Text von Stefan Mesch, der sich so wunderbar offen und unabgeschlossen liest, der Meinung bezieht und doch andere Betrachtungen zulässt. Das allein lohnt die Lektüre des Textes, der mich — einer möglichen Definition von nostalgisch folgend — in meine Vergangenheit zurück versetzt.

»Totes Kapital!« — so schimpfte meine Mutter in meinen Jugendjahren, wenn ich mal wieder mit Büchern nach Hause kam. In meinem Elternhaus, einem Arbeiterhaushalt auf dem Lande, wurde nicht viel von Büchern gehalten. »Bücher bringen Aufstieg, bessere Chancen. Bücher bringen Klassenmobilität.« So beschreibt Mesch die Haltung des Bildungsbürgertums, die mir als Jugendlicher so madig gemacht wurde. Ich musste mir diesen Aufstieg erkämpfen — für und mit Büchern. Ich musste sie verteidigen gegen all die praktischen Dinge, die so viel wichtiger sein sollten: Führerschein, Garten, Haus, handwerkliche Ausbildung. Bücher waren und sind meine Verbündeten gegen die Dummheiten der Welt, sie sind meine Mitstreiter für gute Ideen und die Freunde, bei denen ich in der seelischen und in der körperlichen Not Zuflucht finde. Pathetisch? Mag sein, aber während ich das gerade geschrieben habe, merkte ich einmal mehr, wie viel mir Bücher bedeuten und wie ich sie liebe, selbst die, die nicht liebenswürdig sind. Nennt es von mir aus Pathos, ich nenne es aufrichtig.

Bücher sind »Empathy Machines«, auch wenn das nicht John Updike gesagt hat und wenn damit Filme statt Bücher gemeint sind. Bücher sind »Einfühlungs-Maschinen«? Für mich sind sie Fluchtpunkte, sie belehren Dich, sie erziehen Dich, sie geben Dir Sicherheit und vor allem bilden sie Dich und Deine Persönlichkeit. Sie machen Dich aus. Das mag in manchen Kreisen — beachtet bitte den Widerspruch für eine Gesellschaft, die von sich behauptet, sie sei eine »Wissensgesellschaft« — nicht mehr opportun sein, es ist womöglich nicht wirtschaftlich. Bücher fressen Zeit, und die kann man doch nun wirklich sinnvoller nutzen. Womit und wofür? Steht dahinter nicht die viel wichtigere Frage: Was macht uns glücklich?

Mir ist es so zuwider, wenn all unser Handeln nach Wirtschaftlichkeit befragt wird — vor allem das, was wir in unserer freien Zeit tun. Lesen ist demnach wohl nur sinnvoll, um die schwächelnde Verlagsbranche am Leben zu halten. Nein, das ist — liebe Autoren, Verlage, Buchhändler, seht es mir bitte nach — nicht mein Anliegen, wobei ich den meisten von Euch einen großen, wirtschaftlichen Erfolg wünsche. Aber: Das Lesen ist mir selbst genug. Es hat für mich keinen wirtschaftlichen Zweck.

Natürlich sind für andere Menschen andere Medien oder Beschäftigungen wichtiger und prägender. Wenn jemand die Kraft in und durch Filme fühlt, die ich durch Bücher spüre, dann ist das wunderbar und ich freue mich für ihn. Wenn jemand beides mag — fabelhaft! Wenn für jemanden Musik lebensnotwenig ist — hervorragend! Jedem Menschen das Medium, die Beschäftigung, die Zeit, die Orte, die zu seiner Persönlichkeit gehören. Freiheit. Für mich sind es Bücher, für mich ist es auch die Musik. Zu solchen Einstellungen führen Bücher. Wenn Stefan Mesch schreibt, dass Leser/Buchliebhaber Grund-Geduld, Toleranz und Offenheit brauchen, dann stimmt das. Aber mir ist hier die Kausalität wichtig: Bücher helfen dabei, diese Geduld, Toleranz und Offenheit zu erlangen und zu erlernen.

Bin ich ein Nostalgiker? »Bei “Nostalgikern” denke ich an starre Genre-Formate und Immer-das-selbe-Muster-Zeug wie Monk. An Sitcoms. An simple, feste Spiele. An Gartenbau. An Puzzles. An einen starken, verlässlichen, ordentlichen Rahmen, der vor Veränderungen und Zumutungen schützt.« schreibt Stefan Mesch. Ja, da mag durchaus etwas dran sein. Gerade ich als Krimileser kann durchaus Freude an den Variationen eines alten, bekannten Themas haben. Das kennen wir aus der Musik: Variationen über ein Thema. So erscheinen mir mache Krimis als Spielarten des gleichen Themas. Viele dieser Krimis sind einfach schlecht geschrieben, aber eine intelligente, spielerische Variation eines alten »Who done it?« kann für mich spannend sein. Siehe etwa Gilbert Adair. Und sie sind Schutzpunkte. Wenn alles um mich herum zusammenstürzt, dann lese ich Agatha Christie. Oder Dorothy L. Sayers. Oder andere Klassiker des »goldenen Zeitalters«. Weil sie die zweitschönste Lüge des Lebens bereithalten: Alles wird wieder gut.

»Bücher beherbergen diese Erinnerung.«

Eine »wehmütige Hinwendung zu vergangenen Zeiten« nennt die Wikipedia die Nostalgie, oft einhergehend mit einer Verklärung der Vergangenheit. Wehmut. Sind bibliophile Blogger wehmütig? Ich bin es, gelegentlich. Ich finde das menschlich. Wenn um Dich herum Menschen sterben, wenn Du merkst, dass Dein eigenes Leben endlich ist, dann ist es die Erinnerung, die mir bleibt. Die mag mal verklärt, mal getrübt sein. Aber sie ist notwendig um in der Gegenwart zu überleben. Bücher helfen mir dabei. Bücher beherbergen diese Erinnerung. Zu den schlimmsten Erfahrungen von Demenzkranken gehört, wenn sie merken, dass ihre Erinnerungen, ihr bisheriges Leben erlöschen, verschwinden. Das muss furchtbar sein. Ich weiß nicht, in wie weit Bücher da helfen, ich bin kein Mediziner. Aber ich wünsche es mir.

»Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.« Das schrieb Marcel Proust in seinem Essay Tage des Lesens. Es ist der Satz, das Motiv meines Leserlebens. Es ist meine Hoffnung.

Abbildung: Death’s Dance von Robert & George Cruikshank

Originally published at depeschen.krimiblog.de on May 15, 2013.

--

--

aka karl ludger menke - human since 1966 | librarian since 1992 | dj since 1994 | online editor since 1999 | blogger since 2005 | t.b.c.